Shared Space, 24.11.2008

Nachdenken und dann neu planen

Ein Artikel von Manfred Wawra in „Frankfurter Neue Presse“. Herr Wawra führt aus, wo konkret in Neu-Isenburg sich die Montagsrunde die Einführung von Shared Space vorstellen könnte.
Angehängt ist eine ausführliche Beschreibung des Verkehrskonzepts Shared Space vom Planungsverband Ballungsraum Frankfurt/Rhein-Main.

Neu-Isenburg.

Nach der SPD meldet sich nun auch der politische Kreis der Montagsrunde zum Thema geteilter Straßenraum («Shared Space») zu Wort. Realisiert werden soll das neue verkehrsplanerische Konzept, bei dem alle gleichberechtigt die Straße nutzen können, im nördlichen Teil der Frankfurter Straße. «Dazu müssen wir bei der geplanten Neugestaltung für diesen Teil jetzt innehalten und nochmals über eine Umgestaltung der Straße im Sinne des Shared Space nachdenken», sagt Norbert Schniotalla von der Montagsrunde.

In einem Papier zu ihrem Vorstoß mahnt die Montagsrunde neues Denken bei der Verkehrsplanung in Neu-Isenburg an. Schniotalla führt aus: «Die herrschende Straßenplanung ist von der Vorstellung geprägt, dem motorisierten Verkehr mit breiten Fahrbahnen möglichst viel Raum zu geben.» Die anderen Verkehrsteilnehmer wie Fußgänger und Radfahrer würden auf hiervon getrennte Verkehrsnischen wie Bürgersteige und Fahrradwege beschränkt. Das sei nicht gut.
Bei Shared Space dagegen würden sich alle Verkehrsteilnehmer völlig gleichberechtigt die Straße teilen. Verkehrsschilder, Straßenmarkierungen und Ampeln seien nicht mehr notwendig. Wie Beispiele aus anderen Städten zeigten, führe das zu einer größeren gegenseitigen Rücksichtnahme und als Folge auch zu weniger Unfällen.
In Deutschland zum Beispiel habe dieses Konzept bereits die Stadt Bohmte in Niedersachsen als EU-Modellprojekt realisiert. Dort schwärme man von einem besseren Verkehrsfluss und mehr Lebensqualität. Auch die Geschäftsleute seien zufrieden und die Anwohner könnten durchatmen.

Die Montagsrunde stellt sich vor, den geteilten Straßenraum in der Frankfurter Straße von der Einmündung der Wilhelmstraße bis zur Friedensallee und unter Einbeziehung der Kreuzungen mit der Bahnhofstraße, Offenbacher- und Karlstraße zu realisieren. «Bevor wir Geld für eine Sanierung der restlichen Frankfurter Straße nach überholten Standards ausgeben, ohne dass die grundlegenden Verkehrsprobleme abgestellt werden, halten wir eine ergebnisoffene Diskussion für dringend erforderlich», so Schniotalla.

Die SPD hatte jüngst zu einer Informationsveranstaltung zum Shared Space eingeladen. Ein Kommunalpolitiker aus Bohmte berichtete über die guten Erfahrungen in seiner Stadt mit dem neuen Verkehrskonzept. «Wir wollten damit einen Denkanstoß geben», erklärt SPD-Chef Markus Munari. Auch die Isenburger Grünen denken über Shared Space nach. «Das Thema wird bei uns schon länger diskutiert, wir sind aber noch nicht so weit, um einen konkreten Antrag ans Stadtparlament zu formulieren», erklärt Grünen-Chef Klaus Richter.


Shared Space – geteilte öffentliche (Straßen-) Räume
(Darstellung vom Planungsverband Ballungsraum Rhein/Main)

a) Philosophie:                                                                                    Öffentliche Räume sind multifunktional – Gleichgewicht von Verkehr, Verweilen und anderen räumlichen Funktionen herstellen!
An öffentliche Räume werden viele verschiedene Ansprüche gestellt, daher sollten unterschiedliche Funktionen möglichst ebenbürtig erfüllt werden können. Die Funktion als Verkehrsraum ist dabei nur eine unter vielen, Verweilen und alle anderen räumliche Funktionen sollen in einem gleichberechtigten Neben- und Miteinander existieren. Alle Verkehrsteilnehmer und Nutzer öffentlicher Räume verfügen über die selben Rechte.
Öffentlicher Raum ist in erster Linie ein Raum für Menschen! Er wird als Herz und Spiegel der jeweiligen Gesellschaften aufgefasst. Gelingt es, öffentliche Räume derart zu gestalten, dass eine selbstverständliche Kombination von Funktionen erfolgt, so resultiert daraus ein Mehr an Miteinander, ein erhöhter Erlebniswert im öffentlichen Raum und die Steigerung der Lebensqualität.
Selbsterklärende Räume: Wenn öffentliche Räume bereits durch ihre bauliche und architektonische Gestaltung „lesbar“ werden (z.B. klar ersichtlicher Ortskern, deutlicher Mündungsbereich eines Fußgängerweges), bedarf es keiner zusätzlichen Verkehrs-schilder – die räumliche Suggestion reicht! Insofern gilt es, die Aussagekraft von Straßen und ihrer Umgebung wiederherzustellen.

Räumliche Ausstrahlung bestimmt das (Verkehrs-) Verhalten: menschliches Verhalten wird stark von der Umgebung geprägt. Werden Straßen als anonyme, sinnentleerte Räume empfunden, fördert dies z.B. eine schnelle Fahrweise; sichtbar spielende Kinder führen wirkungsvoller zu einer Geschwindigkeitsreduktion als Schilder alles, was im öffentlichen Raum stattfindet, sollte möglichst sichtbar erfolgen
Ziel von Shared Space ist es nicht, das Auto aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen (Keine Entscheidung gegen das Auto!), sondern den Raum entsprechend der unterschiedlichen Anforderungen, die an ihn gestellt werden, vielfältig zu nutzen.

Verkehrsverhalten durch soziales Verhalten ersetzen: viele Unfälle ereignen sich aufgrund überhöhter Geschwindigkeit, fehlenderInteraktionen, mangelnden Blickkontakt bzw. weil auch im Straßenverkehr schlichtweg Fehler unterlaufen. Shared Space will für menschliche Interaktionen und Blickkontakt sorgen, Rahmenbedingungen schaffen, in denen Fehler passieren dürfen, ohne dass es gleich zum Unfall kommt.

Selbstverantwortung von Autofahrern stärken: angesichts des heutigen Schilder-Waldes fühlen sich Autofahrer nicht mehr für ihr Handeln verantwortlich, wo es keine Vorgaben gibt, ist im Umkehrschluss alles erlaubt. Der gesunde Menschenverstand ist nicht gefragt und „wer sich wie ein Idiot behandelt fühlt, verhält sich auch als solcher“.
Identifikation mit dem Raum schaffen: wer sich mit dem durchfahrenen Gebiet identifiziert, fährt mit angepasster Geschwindigkeit.


b) Konzept & Maßnahmen

  • Entfernung möglichst vieler Ge- und Verbotsschilder
  • Bewusster Verzicht auf klare Vorfahrtsregeln (abgesehen von rechts vor links)
  • Aufhebung der räumlichen Trennungen im Straßenbild (horizontal und vertikal)
  • Räume lebendig und lesbar gestalten
  • (Kultur-) historische Elemente akzentuieren
  • Landmarken schaffen, die z.B. Anfang/Ende eines Ortskerns klar definieren
  • (Sichtbarmachen des Übergangs von schnellem zu langsamem Verkehr)
  • Unverwechselbarkeit des Raumes (Identität und Identifikation)
  • Integration ungenutzter bzw. nicht-gelebter Räume


c) Ergebnisse & Erfahrungen
Verkehrsfluss, Reisegeschwindigkeit, Infrastrukturkapazität:

Obwohl in Räumen, die nach den Prinzipien von Shared Space umgestaltet wurden, deutlich geringere Fahrgeschwindigkeiten gemessen werden (ca. 30 km/h), liegt die Reisegeschwindigkeit deutlich höher (z. B. durch entfallende Stehzeiten an Ampeln). Viele Brems- und Beschleunigungsvorgänge werden obsolet, wodurch sich der Verkehrsfluss verstetigt. Dies führt im Zusammenspiel mit der Aufhebung der verkehrsmittelspezifischen Raumzuweisung zu einer Steigerung der Kapazität von Straßeninfrastrukturen. Darüber hinaus vermindert sich der Flächenverbrauch für Verkehr, wenn nicht mehr für jedes Verkehrsmittel gesonderte Spuren vorgehalten werden müssen.

Unfälle: reduzierte Geschwindigkeiten, die Aufnahme von Blickkontakt und in gewisser Hinsicht eine bewusste „Verunsicherung“ des Autofahrers (keine eingebaute Vorfahrt) vermindert die Zahl der Unfälle insgesamt und v. a. diejenigen mit tödlichem Ausgang. Um Verkehr „sicher“ zu machen, muss man die subjektive Unsicherheit erhöhen!
An den 120 Kreuzungen, welche der „Konzeptvater“ (H. Mondermann) umgestaltet hatte, ereigneten sich an keiner einzigen nach der Umgestaltung mehr Unfälle als zuvor. Waren vor der Umgestaltung jährlich mehrere tödliche Unfälle zu verzeichnen, so
erfolgte in den 5-10 Jahren seit der Umgestaltung kein einziger tödlicher Unfall mehr.

Lebensqualität: die stärkere Durchmischung und das gesellschaftliche Miteinander führen zu einer Verbesserung räumlicher und sozialer Qualitäten:

Kommunikation, lebendige Umwelt:
Räumliche Suggestionen funktionieren besser als Verbote: In Drachten (NL), erstes Beispiel für Shared Space, hatte man im Vorfeld über Jahre alle verkehrlichen „Schikanen“ zur Verkehrsberuhigung durchgetestet. Erst als dies nicht zum gewünschten Erfolg führte, ging man den umgekehrten Weg, entfernte alle verkehrlichen Vorgaben, was einhergehend mit städtebaulichen Umgestaltungen sehr erfolgreich war und zur Expansion des Prinzips führte.

Shared Space = Standortpolitik: im Wettbewerb mit Standorten auf der Grünen Wiese bzw. Metropolen kann die Aufwertung des öffentlichen Raumes gerade für Klein- und Mittelstädte einen wichtigen Beitrag zurStärkung des lokalen Einzelhandels leisten.

Ökonomische Vorteile: Werden die Prinzipien von Shared Space im Rahmen ohnehin anstehender Fahrbahnsanierungen oder städtebaulicher Aufwertungen umgesetzt, können erhebliche Infrastrukturkosten gespart werden z.B. Kosten für Ampelanlagen, welche sich durchschnittlich auf 150.000 € (Anschaffung) und 10.000 € an jährlichen Unterhaltskosten belaufen.

Shared Space nicht nur für Kleinstädte! Gute Erfahrungen wurden z. B. in London mit der Beseitigung signalisierter bzw. in Hoch-/Tieflage verlaufender Fußgänger-Überführungen gemacht (geringere MIV-Geschwindigkeiten; höheres Fußgänger-Aufkommen). Die Beseitigung von Fahrbahnmarkierungen führte zu einer Verstetigung der Geschwindigkeit auf niedrigerem Niveau.